Falsches Familienglück

Die Verleihung der Goldenen Palme in Cannes gilt als intellektueller Bruder der Oscars. Filme, mit einem künstlerischen und erzählerischen Anspruch dürfen sich über die erhoffte Aufmerksamkeit aus der ganzen Welt freuen. Ob Blau ist eine warme Farbe, Ich, Daniel Blake oder The Square – Cannes bringt jährlich neue Perlen an den sonst so mit Blockbustern überfüllten Filmehimmel.

2018 ging der prestigeträchtige Preis an den japanischen Film Shoplifters von Regisseur Hirokazu Koreeda. In diesem Film geht es um eine ärmliche Familie, die am Rande der Hauptstadt Tokio auf engsten Verhältnissen lebt, und sich durch Ladendiebstähle den täglichen Bedarf sichert. Osamu Shibata (Lily Franky) ist der Mann im Haus und hat die Langfingerzüge mit den Kindern mittlerweile bis zur Perfektion getrieben.

Eines Abends bringen Osamu und der 10-jährige Shota (Kairi Jo) plötzlich die kleine Yuri mit nach Hause, die sie in beim Heimweg in eisiger Kälte nur dünn angezogen auf einem Balkon vorfinden – scheinbar von den eigenen Eltern ausgesperrt. Im Zuge dessen lebt Yuri nun bei der Familie und wird von Shota regelmäßig auf die Diebeszüge mitgenommen. Dass diese Entführung nicht folgenlos bleibt, ist natürlich klar und so wird der Zuschauer schon relativ früh vor die Frage gestellt: Ist es auch Entführung, wenn es dem kleinen Mädchen in der neuen Familie sichtlich bessergeht? Die Antwort ist natürlich eindeutig, dennoch beginnt der Zuschauer, die Motive der sympathischen Familie mehr und mehr zu verstehen.

Osamu Shibata (Lily Franky) hat seine kleinen Raubzüge perfektioniert. © Wildbunch Germany

Ähnlich wie in Alfonso Cuarons Roma (hier zur Kritik), erzählt der Regisseur hier eine Geschichte, die fast schon eine Milieustudie ist. Sie beleuchtet das Thema Familie in all ihren Facetten und stellt immer wieder moralische Fragen, ohne dabei jedoch zu dramatisch zu werden. Was ist eigentlich Familie? Reicht die Verbindung im Blut, um von Familie zu sprechen, oder sind Zuneigung und Liebe die entscheidenden Merkmale?

Koreeda hat schon 2013 mit Like Father, Like Son gezeigt, wie die Thematik in einem gefühlvollen Film verarbeitet werden kann. Dafür gewann er in Cannes den großen Preis der Jury. Shoplifters wird es ebenfalls schaffen, das Herz des Zuschauers zu erobern. Kleine, feine Details, Dialoge und Weisheiten, die das Herz berühren, erinnern an das „echte Leben“. Dazu schafft es der Filmemacher, die Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren durchweg glaubhaft zu erzählen und ihnen somit authentische Gesichter zu geben.

Shoplifters ist auf jeden Fall einen Blick wert – er erzählt seine Geschichte auf erstaunlich unspektakuläre Art und verzichtet auf Fremdschämmomente, auch wenn es viele davon hätte geben können. Ein toller Film, der gerade in der grauen Nachweihnachtszeit für viele erwärmte Herzen sorgen dürfte.

Von Florian Teichert


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