Die untergegangene Familie – Zieht die Gardinen zu!

Manchmal schaut man ja Filme und denkt sich: „Dieser Film ist wirklich gut – so richtig erklären, wieso, kann ich aber nicht.“ Der argentinische Film Die untergegangene Familie gehört genau zu dieser Art. Es passieren viele merkwürdige Dinge. Viele Dinge, die vielleicht nur jemand versteht, der aus dem südamerikanischen Kulturkreis kommt. Und dennoch nimmt der Film mit.

In dem Regiedebüt von Maria Alche spielen vor allem Themen wie Trauerbewältigung und Familie eine zentrale Rolle. Dafür setzt Alche, die sonst eigentlich als Schauspielerin tätig ist, vor allem auf Motive aus dem Magischen Realismus, einer Künstlerströmung, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in die südamerikanische Kultur Einzug hielt. Der magische Realismus vermischt die Grenzen zwischen Realität und Fantasie. Dabei werden auch immer wieder kulturelle und mythologische Bezüge genommen.

In Die untergegangene Familie geht es in erster Linie um Marcela (Mercedes Morán), die den Tod ihrer Schwester nur schwer verarbeiten kann. Sie lebt mit ihren drei Kindern und ihrem Ehemann in einer kleinen Wohnung in Buenos Aires. Während ihre Kinder jeden Abend auf irgendwelchen Party herum turnen, ist Marcelas Ehemann ständig auf Montage. Die Hausfrau zieht sich immer mehr in ihre eigene Fantasiewelt zurück.

Mit toten Tanten beim Tee

So sieht sie in ihrer Wohnung immer wieder verstorbene Verwandte, die plötzlich mitten im Wohnzimmer sitzen und Tee trinken. Hier spielt Alche vor allem mit der Jenseits-Symbolik, die im Film durch den steten Einsatz von Gardinen als Grenze zwischen Jen- und Diesseits dargestellt werden. Generell verlässt man als Zuschauer in Die untergegangene Familie nur selten die verschiedenen Wohnungen. Umso erstaunlicher ist es, wenn man dann doch eben mal kurz Außenaufnahmen zeigt und selbst als Zuschauer das Gefühl hat, endlich wieder mal durchatmen zu können.

Surreale Momente häufen sich in Die untergegangene Familie © Surtsey Films

Der Film ist zum größten Teil drückend und eng. Das liegt an den vollgepackten Wohnungen, das liegt an der rostroten staubigen Lichtgebung, das liegt aber vor allem an den langgezogenen Szenen, die ein realistisches Abbild davon geben, wie innerhalb einer Familie kommuniziert wird. Authentische Dialoge – und davon gibt es nicht wirklich viele – sind eines der Markenzeichen des Films. Ob Realität, ob Fantasie – der Zuschauer beobachtet ständig Marcela. Und diese beobachtet wiederum, was in ihrer Umgebung so passiert.

Da sie sich in ihrer Trauerbewältigung allein gelassen fühlt, projiziert sie nicht nur totgeglaubte Verwandte zurück in ihr Leben, sondern geht auch eine Beziehung zu Nacho, einem Bekannten ihrer ältesten Tochter, ein. Diese „Liebesgeschichte“ bleibt jedoch nur am Rande – der Fokus des Films liegt ganz und allein auf das Innenleben der Hauptfigur. Mercedes Morán spielt unfassbar gut und schafft es, die Emotionalität einer Mitfünfzigerin in solch einer festgefahrenen Situation, auf die Leinwand zu bringen.

Der Exorzist lässt grüßen

Die fast schon surrealen Momente überschlagen sich dann im letzten Viertel des Films und nehmen dabei fast schon Lynch’eske Züge an. Als Marcelas jüngste Tochter plötzlich mit dem Oberkörper nach oben gedreht auf allen Vieren durch die Wohnung marschiert, erkennt man fast schon exorzistische Züge. Als sich während eines Gesprächs mit zwei Tanten aus dem Jenseits, ein weiteres Wesen zwischen den Vorhängen wie in einem Kokon bewegt, spürt man vielleicht sogar die ein oder anderen Horrorfilm-Vibes.

Die untergegangene Familie besteht letztlich aus vielen Symbolen, die für den Westeuropäer vielleicht gar nicht zu verstehen sind. Dennoch lässt Alches Debüt einen so schnell nicht aus seinen Fängen. Man schaut hin, versucht zu verstehen und ist immer wieder überwältigt von der Bildsprache und der Atmosphäre. Familie auf eine ganz besondere Art.

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Lateinamerikanisches Kino ist immer einen Blick wert. Der mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón inszenierte im Jahr 2018 den Film Roma und überzeugte vor allem durch seine sanften und langsamen Alltagseinstellungen auf ganzer Linie.

Unsere Kritik zu dem Film, der bei den Oscars 2019 als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet wurde, findet ihr hier.


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